Ausgewählte Erzählungen Uwe Claus

 

 

 

Ein Angebot

 

 

     Jörg sprang von der Bank und griff nach seinem abgewetzten Wehrmachtsrucksack. Erst letztes Frühjahr hatte er ihn auf Großmutters Speicher aus dem hintersten Winkel eines wurmstichigen Wäscheschrankes hervorgekramt und bei ihr abgestaubt. Ein Prachtstück, wie ihm all seine Kumpels bestätigten. Er kaufte eine Fahrkarte für den nächsten Zug und stürmte auf den Bahnsteig. Nur fort! Egal in welche Richtung.

     Selbst draußen fiel es ihm schwer, einen klaren Kopf zu bekommen. Seine Gedanken flatterten wie diese Schar aufgescheuchter Spatzen, die auf dem Acker hinter den Gleisanlagen einen Traktor verfolgten, der Gott weiß was unterpflügte. Jörg hatte sie schon auf dem Weg zum Bahnhof verwundert beobachtet. Staubwolken hielten die wilde Bande jedoch auf Distanz.

     Nervös trat Jörg von einem Bein aufs andere, als gelte es zu verhindern, daß die Erde unter ihm aufriß. Er blickte sich um. Aber da war niemand. Er stand allein auf dem Bahnsteig dieses kleinen Bahnhofes irgendwo im Mecklenburgischen. Er wußte selbst nicht so genau wo. Es mußte ein Ort mit dem für diese Gegend typischen »ow« am Ende sein, soweit er die ausgewaschene Schrift über der Tür des niedrigen Bahnhofsgebäudes entziffern konnte: Thelkow. Wolkow. Rensow. Stierow. Poggelow. Lewitzow. Oder Thürkow ... Sie sind doch alle gleich. Überall die unverputzten roten Ziegelsteinhäuser, ungeschminkt, wie die verwitterten Gesichter alter Bäuerinnen.

     Die Sonne trollte sich gen Westen, als hätte sie für diesen Tag genug gesehen. Plötzlich schien es Jörg, als ob ihn jemand beobachtete ... , observierte ... durch die Scheibe der Bahnhofshalle hindurch. Der Sonnenuntergang, der sich in ihr spiegelte, ließ ihn allerdings nichts erkennen.

     Er hatte alles ganz anders geplant. Es sollte sein erster selbständiger Urlaub werden. Ohne die Enge des elterlichen Trabants. Ohne die nervenden Kommentare der kleineren Brüder. Er wollte durchs Land trampen. Einfach frei sein! Frei von der Schule. Frei von den alten Freunden. Frei für ein Abenteuer ... Er verstand es selbst nicht. Warum ist er dann abgehauen? Jörg schüttelte den Kopf, als müsse er die lästigen Gedanken ein für allemal loswerden und in den Sand treten. Einfach treten! Treten! Treten ... Er blickte kurz entschlossen über die Schulter. Doch da war niemand. Nur der über die Scheibe geklebte Schriftzug: MITROPA geschlossen!, drängte sich ihm auf. Aber das beruhigte ihn nicht. Sollte der Fremde ihm folgen? Vielleicht stand er jetzt ebenfalls am Schalter und kaufte eine Fahrkarte ... Jörg spürte, wie sein Herz zu pumpen begann, um die Ängste, Sorgen und Befürchtungen über seinen ganzen Körper zu verbreiten bis hinab in die kleinste Zehenspitze. Seine Muskeln spannten sich.

     Wovor wollte er eigentlich weglaufen? Die Frage tauchte so unvermittelt auf, wie er vorhin von der Bank aufgesprungen war. Er konnte ihr nicht ausweichen. Mit der Hoffnung, wenigstens in der MITROPA ein warmes Essen zu bekommen, war er zum Bahnhof gelaufen. Im Ort selbst hatte keine der fünf Kneipen geöffnet: Urlaub, Krankheit, Ruhetag und andere Unbilden des Sozialismus hatten die Gastronomie heimgesucht. So war ihm nichts anderes übriggeblieben, als resigniert neben dem Fremden auf der einzigen Bank in der Bahnhofshalle Platz zu nehmen und abzuwarten. Plötzlich sprach der ihn an: »Na, mein Jung, du siehst so müd aus.« Kein Wunder! Er hatte ja schon letzte Nacht keine richtige Bleibe gefunden, sich nur auf einer harten Parkbank schlaflos für ein paar Stunden mit schmerzendem Rücken von einer Seite auf die andere gewälzt. Sie kamen ins Gespräch. Jörg erzählte dem Fremden von seiner Tour, er von seiner Frau und ihrer nun glücklich geschiedenen Ehe. Nichts kam ihm sonderbar vor: weder das, was der Fremde freimütig über seine gescheiterte Beziehung berichtete, noch sein blaues Jackett, die weiße Hose, auch nicht das rosa Hemd, an dem die beiden obersten Knöpfe geöffnet waren, so, daß man ein paar seiner gekräuselten, graumelierten Brusthaare sah. Die blankgewienerten schwarzen Lacklederschuhe glänzten im Licht der verschmutzten Neonröhre. Vielleicht ist er auf dem Weg zu einem Rendezvous, hatte Jörg noch gedacht. Nicht einmal der große Silberring mit dem roten Stein an seinem kleinen Finger störte ihn. Als seinem Gesprächspartner die ersten Schweißperlen auf die rosige Stirn traten, schrieb er es dessen Körperfülle zu oder der schwülen stickigen Luft in dem geschlossenen Raum, der seine Frischluftzufuhr einzig über die offene Toilettentür zu regeln schien.

     Wann kommt endlich der Zug? Schon fünf Minuten Verspätung! Jörg blickte ungeduldig abwechselnd in beide Richtungen. Die Signale standen auf Rot. Wie die Sonne, dieses Katzenauge am Ende des Tages.

     Was hatte ihn aufgeschreckt? Daß der Fremde überraschend die klobige Hand mit den fleischigen Fingern auf sein Knie legte und freundlich anbot: »Du kannst diese Nacht auch bei mir bleiben ... «? ]örg blieb sitzen. Die Wärme und die Ruhe, die die Hand des Mannes ausstrahlte, tat seinen übermüdeten Gliedmaßen gut. Er war überwältigt und dankbar zugleich für diese Geste, für sein Angebot ... Doch warum fühlte er sich plötzlich so zu dem Fremden hingezogen? Was strahlte er aus, daß in ihm das Bedürfnis weckte, den Kopf an seine Schulter zu lehnen? Als sich ihre Blicke begegneten, durchzuckte es Jörg ... Er geriet in Panik.

     Eine Ewigkeit, nachdem der Zug den Haltepunkt bereits verlassen hatte, stand Jörg noch immer wie angewurzelt auf dem Bahnsteig. In seinen Augen spiegelte sich die Sonne knapp über dem Horizont; ein roter Apfel, zum Greifen nah.

 

 

(aus: Carola oder Schwarze Magie)

 

 

 

***

 

 

Bojen

 

 

     Bis zu einer der Bojen wollte er. Weiter nicht. Das Meer war blau und die Bojen nicht soweit entfernt, dass sie unerreichbar schienen.

     Am Strand fand Udo kaum noch für sein Handtuch Platz. Kinder wuselten um ihn herum: Fußball spielend. Muscheln suchend. Sandburgen kleckernd. Mütter verschanzten sich strickend oder lesend hinter ihrem, vom Vati aufgerichteten, Windfang. Ausrangierte Übergardinen wurden zum Zwecke des Windschutzes (- und nicht der Betrachtung!) an Besenstiele gezweckt. In Ermangelung von Strandkörben im sozialistischen Badealltag begann man schon früh am Morgen die ersten Familienfestungen zu errichten. Nun am Nachmittag: Strandburgen soweit das Auge reichte. My home is my castel! Die älteren Jungs und Mädchen, zu Hause längst dem Sandkasten entsprungen, buddelten sich mit wachsender Begeisterung gegenseitig ein. Neben den Kleckerburgen und zwischen den nackt durchs seichte Wasser tobenden Kleinsten kühlten Väter ihr Pils; immer mit einem wachsamen Auge auf die unter dem Ladentisch ergatterten Radeberger, Wernesgrüner oder Budweiser, kamen sie gewissenhaft ihren väterlichen Aufsichtspflichten nach. Die drei auf Badetüchern ausgestreckten Mädchen neben Udo blinzelten abwesend unter ihren auf die Stirn geschobenen Sonnenbrillen hervor, als suchten sie das Meer nach der ehemals klare Linie des Horizontes ab. Doch der hatte sich hinter einen Dunstschleier verzogen. Dabei ignorierten sie das Naheliegendste. Sie würdigten Udo keines Blickes. Der hatte den Eindruck, als gehöre er nicht dazu und stünde über den Dingen des täglichen Bedarfs.

     Die Sonne mit ihrem messerscharfen Skalpell des Lichtes schnitt seinen Schatten in den Sand und schälte die Vernunft aus dem Schädel; die Luft flirrte über den Dünen. Selbstverliebt sonnte sie sich in ihrem eigenen Glanz. Kein klarer Gedanke war zu fassen. Abkühlung tat Not.

     Weit konnte er ins Meer hinauslaufen. Mal stand er bis zum Bauchnabel im Wasser. Dann wieder auf einer Sandbank nur bis zu den Knien ... Immer weniger Badende fand er zu seiner Rechten und Linken. Endlich verlor er den Grund unter den Füßen. Die ersten kräftigen Züge. Ein letzter Blick zurück. Dann begann er gleichmäßig zu schwimmen; sein Ziel vor Augen. Er malte sich aus, wie die Jungs und Mädchen, vor allem die Mädchen, seinen Kurs verfolgten. Anerkennend. Staunend. Bangend: Wird er es schaffen? Er fühlte sich stark und sicher. Wie von allein bewegten sich Arme und Beine. Das Wasser trug ihn. Ein herrliches Gefühl.

     Ob man es schaffte, über die Ostsee zu schwimmen? Langsam wurde die Boje größer und die Wellen höher. Manchmal, wenn er sich in einem Wellental befand, konnte er sie nur noch teilweise oder gar nicht mehr erkennen.

     Mit dem ersten Schluck Ostseewasser aber kam die Angst. Eine Angst, die salzig schmeckte. Udo sollte diesen Geschmack nicht wieder loswerden.

     Bis zu der Boje, das musste doch zu schaffen sein! Auch wenn die Arme langsam schwerer wurden, bemühte er sich um gleichmäßige Züge. Er hatte Zeit. Hatte er wirklich Zeit? Was wäre, wenn er einen Krampf bekäme? Wenn er von der Meeresströmung abgetrieben würde? Ins Fahrwasser der Schiffe geriete ... Er wurde die Fragen nicht mehr los: Wie tief war unter ihm das Wasser? Zwei Meter? Fünf Meter? Zehn Meter? Die Vorstellung, nie wieder Grund unter die Füße zu bekommen, hing an seinen Beinen. Bleigewichte, die ihn nach unten zogen. Er hatte das Gefühl, keinen Zentimeter vorwärts zu kommen. Plötzlich schien ihm sein Ziel unerreichbar fern.

     Udo blickte sich um. Die Menschen waren nur noch Punkte, der Strand ein schmaler Strich. Panik erfasste ihn! Auf der Stelle wendete er und schwamm gegen die von der Küste ins offene Meer drängende Strömung an. Alle Kraft setzte er ein. Trotzdem glaubte er, immer weiter hinaus getrieben zu werden. Nach jedem dritten Zug schaute er zurück. Doch es war zum Verzweifeln, nun rückte die Boje näher. Eine unsichtbare Hand hielt seinen Körper umklammert und ließ ihn nicht wieder los. Was hatte er heute Morgen in den Ostsee Nachrichten gelesen? URLAUBER AN DER SEEBRÜCKE AALBECK ERTRUNKEN! Wie würde die Schlagzeile für ihn lauten? ... Ein anderes Bild drängte sich auf, Udo bekam es einfach nicht aus dem Kopf: Er im Sand unterhalb der Dünen. Plötzlich ein Hilferuf. Mit blassem Gesicht rannte der etwa zwölfjähriger Junge stolpernd und schreiend zum Rettungsturm. Nur wenige Meter vom Strand entfernt klammerte ein älterer grauhaariger Mann an den Schutzbuhnen, die vielleicht fünfzig Zentimeter in die Luft ragten. Immer wieder schleuderten die heranpreschenden, von einer weißen Schaumkrone besetzten und sich überschlagenden Wellen den kraftlosen Körper gegen das glitschige Holz. Bis unter die Dünen war das Klatschen zu hören! Wie lange würde er standhalten?

     Udo verschluckte sich. Salzwasser! Angst! Husten! Panik! Er spuckte den salzigen Speichel aus. Immer wieder. Der Hustenreiz ließ nur langsam nach. Seine Arme schmerzten. Die Wellen klatschten. Er konnte sich auf nichts anderes konzentrieren. Spendete ihm Neptun samt seinen schönen Töchtern höhnisch Beifall: Sportlich! Sportlich ... Oder klopfte schon der Tod sein Leben ab? Gab es hier Strudel, die einen plötzlich in die Tiefe rissen? Was war unter ihm?

     Noch einmal warf er einen Blick zurück. Er schien der Boje noch nie so nah gewesen zu sein ... Nichts sehen! Nichts hören! Nichts denken! Nur schwimmen ... Instinktiv versuchte Udo parallel zu den Wellen zu bleiben und nicht direkt auf die Küste zuzusteuern. Er wagte nicht mehr aufzuschauen oder nach hinten über die Schulter zu blicken. Er wollte sich wieder vom Wasser tragen lassen und einfach schwimmen. Atmen. Schwimmen ...

     Unversehens durchzuckte ihn eine Reihe von Gedanken. Leuchtbojen in der Nacht: Das Leben ginge weiter ... Auch ohne ihn ... Die Kinder kleckerten seelenruhig Sandburgen ... Die Väter wischten genüsslich mit dem Handrücken Bierschaum von ihren Lippen ... Und die Mädchen sähen verträumt aufs offene Meer, als sei dort der Himmel auf Erden.

 

 

(aus: Bojen oder der Tanz um den goldenen Rathausmann)